War das Byzantinische Reich eine Theokratie?


War das Byzantinische Reich eine Theokratie?

Anastasios Philippidis
Griechisch-Orthodoxe Tradition: Wurzeln und Perspektive

Um Verwirrung zu vermeiden, die bei den meisten Autoren erzeugt wird durch die fehlende Definition des Begriffs Theokratie, schlagen wir vier Kriterien vor, anhand derer überprüft werden kann, ob und in welchem Maß ein Staat eine Theokratie ist:

1.)  Politische und religiöse Macht in der Hand ein und derselben Person.
2.)  Religiöse Vorschriften in der gesamten Gesetzgebung.
3.)  Ausübung der öffentlichen Verwaltung von religiösen Amtsträgern.
4.)  Kontrolle der Erziehung durch die religiöse Hierarchie.

Es mag eigenartig  erscheinen, aber „Byzanz“ erfüllt nicht eines dieser vier Kriterien, die für den theokratischen Staat charakteristisch sind. Wir wollen dies der Reihe nach untersuchen.

1.) Dass der „Papst“ und der „Cäsar“ verschiedene Personen waren, ist natürlich bekannt. Weder der eine noch der andere hatte uneingeschränkte Macht über alle Obliegenheiten des öffentlichen Lebens. Mit anderen Worten, kein Chomeini hat jemals auf dem Thron des Patriarchen  den gesamten Staat regiert. Zudem hat kein Bischof jemals irgendeine militärische Truppe befehligt und zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt, wie es im Westen die Regel war.

2.) Im Bereich des Rechts setzte „Byzanz“ die große römische Tradition fort. Grundachse der Gesetze blieb in seiner gesamten jahrhundertelangen Geschichte das Römische Recht,  wie Justinian es kodifiziert hatte.  Es wurden zeitweise  Änderungen hinzugefügt, die durch die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und den Einfluss des Christentums erforderlich wurden. Daher war die letzte Fassung eine wesentlich humanere Version des antiken Römischen Rechts. Das alles gehörte jedoch zum weltlichen (nicht-kirchlichen) Wirkungskreis des Staates. Die Rechtsschulen und Gerichtshöfe hatten keine Beziehung zur Kirche, und keinesfalls waren Bischöfe Richter, wie es zur selben Epoche im Westen vorkam. (Die Bischöfe konnten in gewissen Fällen Richter sein, wenn es der Angeklagte verlangte, aber das war ein menschliches Zugeständnis, welches das Wesen der grundsätzlich weltlichen Gerechtigkeit nicht veränderte).

3.) Die ungestörte politische Kontinuität  von „Byzanz“ hatte zur Folge, dass immer eine gebildete Bürokratie zur Verfügung stand, welche  die staatlichen Angelegenheiten verwaltete.  Im Gegensatz dazu wurde ab dem 6. Jahrhundert im Westen ein gewaltiges Defizit im Bildungsbereich bemerkbar, wie wir im nächsten Abschnitt genauer sehen werden.  Kennzeichnend für den Bildungsrückschritt im Westen war, dass  es keine gebildeten nicht-kirchlichen Männer mehr gab, die für die elementaren Verwaltungsbedürfnisse  der neu unterworfenen  Völker eingesetzt werden konnten. So stützte sich Westeuropa seit dem 7. Jahrhundert  ausschließlich auf Geistliche für die Belange in Diplomatie, Verwaltung und Bildung.
Bereits am Hof Karls des Großen (Ende des 8. Jahrhunderts) waren fast alle bekannten Gelehrten, mit Ausnahme von Einhard, Geistliche (Alkuin, Paulus Diaconus, Petrus Diaconus, Paulinus etc.). Es handelt sich hierbei um eine  Entwicklung mit bemerkenswerten Folgen für die westliche Geschichte. Nicht nur, weil sie 1000 Jahre lang andauerte und den Charakter des Westens prägte, sondern auch, weil sie schließlich einen exzessiven antiklerikalen Geist heraufbeschwor, der in den Jahren der Aufklärung und der Französischen Revolution zur Entladung führte. Dieser Widerstand hat die heutige Haltung des Westeuropäers zum Christentum geformt. Der Westeuropäer wäre heute ein ganz anderer Mensch, wenn er nicht jahrhundertelange Repressionen durch die Monopolstellung der lateinischen Kirche im öffentlichen Leben mit sich zu schleppen hätte. All das ist freilich den Rhomäern (Griechen) gänzlich unbekannt, da der weltliche Charakter der römischen Verwaltung als   grundlegendes Charakteristikum von „Byzanz“  während der gesamten Dauer seiner Existenz bestand. Darüber hinaus ist dies auch ein Grund dafür, dass antiklerikale Botschaften in unserem Land nie Anklang fanden. [1]

4.) Was die Erziehung anbelangt, so können wir in „Byzanz“ drei Schultypen unterscheiden: öffentliche Schulen, Privatschulen und Klosterschulen. Die letzteren waren ausschließlich Kindern vorbehalten, die dem Mönchsleben geweiht waren. Das Ökumenische Konzil von Chalkedon (451) verbot den Laien ausdrücklich den Besuch der Klosterschulen, und diese Vorschrift wurde offensichtlich ohne Ausnahme angewandt.[2]  Die Mehrheit unserer rhomäischen Vorfahren wurde also in weltlichen Schulen erzogen, ganz im Gegensatz zum Westen in derselben Epoche. Wie man weiß, hatte im Westen der völlige Zusammenbruch der griechisch-römischen Kultur zur Folge, dass über Jahrhunderte die Kirche als ausschließliche Trägerin des Erziehungswesens auftrat. Die einzige Bildung, die man erwerben konnte, war die, die in den Klöstern gewährt wurde.

Im Gegensatz dazu war die Erziehung  in „Byzanz“ hauptsächlich der klassischen Tradition verpflichtet. Vorgeschriebene Lektüre war, zusammen mit der Bibel, der Homer, den alle Schüler auswendig lernten und  Wort für Wort deuteten.[3] Michael Psellos (1018-1078) rühmt sich, die komplette Ilias schon von klein auf auswendig gewusst zu haben[4].

Anna Komnena (1083-ca.1154) zitiert in ihrem Werk „Alexiade“ sechsundsechzig Mal  Verse von Homer, oft sogar ohne die Notwendigkeit zu empfinden, die Quelle zu nennen.[5] Um die kulturelle Kluft zwischen den Rhomäern und dem Westen zu verstehen, genügt es,  daran zu erinnern, dass Homer im Westen erst im 14. Jahrhundert  bekannt wurde, als auf Bestellung von Petrarca und Boccaccio ein süditalienischer Rhomäer, namens Pilatos, die Ilias und die Odyssee  ins Lateinische übersetzte.[6]

Der weltliche Charakter der Erziehung während der tausendjährigen Geschichte des Kaiserreichs wird auch durch die Tatsache unterstrichen,  dass die Universität von Konstantinopel eine staatliche Einrichtung war, die sich nie unter der Kontrolle der Kirche befand. Laut Gründungsprotokoll  (unter Theodosios II.,  425) wurden die Professoren vom Staat bezahlt und waren von Steuern befreit.[7] Es ist bezeichnend, dass im Universitätsprogramm das Fach Theologie gar nicht auftrat, da das Ziel der staatlichen Erziehung die Ausbildung von hohen Staatsbeamten und Funktionären war.[8]

Wie wir schon eingangs erwähnten, ist die Thematik der Theokratie von „Byzanz“  ein weites Feld und kann hier nicht erschöpfend behandelt werden. Aus dem Wenigen, das wir oben aufgezeigt haben, sollte jedoch klar geworden sein, dass die Gestalt des christlichen Oströmischen Kaiserreichs sich erheblich von dem unterscheidet, was uns von so manchen populären,  vereinfachenden Ansichten vorgeführt wird. Auf die Gefahr hin zu ermüden,  wiederholen wir, dass wir leider oft in den Fehler verfallen, das dunkle theokratische westliche Mittelalter mit der entsprechenden Epoche von „Byzanz“ zu  identifizieren.

Wie wir aber gesehen haben, sind die Unterschiede gewaltig und sehr wesentlich. Die Unbildung, die Unfreiheit, die religiöse Unterdrückung bis hin zur Heiligen Inquisition, die Bischöfe mit eigenem Heer, die Truppen von Mönchen in die Schlacht führten, so etwas  ist in unserem Land und in unserer Kultur unbekannt. Das erklärt zu einem Teil auch den hartnäckigen Widerstand der Rhomäer  gegen die Bemühungen um ihre Verwestlichung, ein Widerstand, der von 1204 bis heute zu beobachten  ist.

Es gibt noch andere Gesichtspunkte der kulturellen Kluft zwischen den Rhomäern und dem Westen im  Mittelalter zu untersuchen, dieser Epoche, die oft als „dunkel“ für ganz Europa bezeichnet wird. Wie wir sehen, ist die Charakterisierung „dunkel“ völlig zutreffend, wenn mit dem Begriff „Europa“ nur der Westen gemeint ist. Wenn wir aber das Oströmische Kaiserreich, „Byzanz“, mit einbeziehen, dann fallen wir dem obskuren kulturellen Imperialismus des Westens zum Opfer.

Anmerkungen
1. Es ist bemerkenswert, dass die beiden einzigen antiklerikalen Strömungen, die in Griechenland aufgetaucht sind, bloße „Übersetzungen“ westlicher Strömungen sind, ohne irgendeinen Bezug zur griechischen Realität. Die eine ist die liberale Aufklärung, wie sie sich z.B. bei dem anonymen Autor von „Griechische Verwaltungsbezirke“ ausdrückte, und die andere ist der Marxismus. Die erstere ist derart losgelöst von der griechischen Wirklichkeit, dass von „Orden“ der Priester und Archimandriten gesprochen wird, was eine bei uns vollkommen unbekannte Institution ist (aber weit verbreitet im Westen). Der herausragende Wissenschaftler (und ein begeisterter Fürsprecher) der neugriechischen Aufklärung K.Th. Dimaras räumt ein, dass „nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich um einen Autor handelt, der nicht die griechische Schulbildung genossen hat“ (s. K.Th. Dimaras, 1977, S.48). Auf der anderen Seite ist der Marxismus mit seinem starren ideologischen Konzept, das ausschließlich auf der westlichen Erfahrung fußte. Er versuchte die fortlaufenden „Schwierigkeiten“, denen er bei der Deutung der griechischen Gesellschaft begegnete, zu überwinden, indem er Zuflucht nahm zu solchen Sätzen wie „ideologische Verwirrung der griechischen herrschenden Klasse“ oder „falsches Bewusstsein der Arbeiterklasse“. Zweifellos ist eine vollständigere Untersuchung notwendig, was die gänzliche Unkenntnis dieser beiden Strömungen hinsichtlich der griechischen Eigenheit angeht.
2.  s. Buckler, Georgina S. 309.
3.  ebd. S. 295.
4. s. Runciman, Steven  (1979), S. 250.
5.  ebd. S. 250.
6. s. Giannakopoulos (1966) S. 54.
7. s. Buckler, G. (1986), S. 310.
8. s. Lemerle, Paul (1983), S. 89-90.

Übersetzung: Marion Alipranti-Conrad, Universität Athen
Heiliges Kloster Pantokratoros

 




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