Altvater Sophrony von Essex

Die Bedeutung des dogmatischen Bewußtseins
im geistigen Leben

Quelle: http://www.prodromos-verlag.de/

Wir finden keinen Begriff, um das geistige Leben zu definieren, denn es ist unergründlich und schlechthin undefinierbar in seinen Quellen, in seinem ewigen Ursprung, obwohl zugleich einfach und eins in seiner Natur. Vielleicht könnte man diesen Bereich als "überbewußt" bezeichnen, doch diese Bezeichnung ist nicht klar genug, und außerdem präzisiert sie nichts, es sei denn die Beziehung zwischen dem denkenden Bewußtsein und dem, was sich jenseits seiner Grenzen befindet.

Wenn wir von diesem undefinierbaren Bereich übergehen zu der Sphäre, die unserer Beobachtung und sogar einer gewissen Kontrolle zugänglich ist, sehen wir, dass sich das geistige Leben auf zwei Arten äußert – als  geistiger Zustand oder Akt und als dogmatisches Bewußtsein. Diese beiden Aspekte, obwohl unterschieden voneinander und in einem gewissen Maß sogar getrennt voneinander in ihrer "Inkarnation", das heißt in ihrem formalen Ausdruck auf der Ebene unserer gelebten Erfahrung, bilden in ihrem Wesen ein unteilbares Ganzes. Anders gesagt, jeder asketische Akt, jeder geistige Zustand, ist unauflösbar verbunden mit dem entsprechenden dogmatischen Bewußtsein.


Das dogmatische Bewußtsein

hinter dem Gebet von Starez Siluan für die ganze Welt

Eingedenk dessen haben wir stets zu erfassen versucht, mit welchem dogmatischen Bewußtsein das große Gebet des Starez und die heißen Tränen, die er vergoß für die ganze Welt, verbunden waren.

Indem wir die Worte des Starez, schwer verständlich in ihrer großen Einfachheit, in eine den heutigen Menschen verständlichere Sprache übertragen, hoffen wir, ihnen den Inhalt seines dogmatischen Bewußtseins ein wenig näher zu bringen.

Der Starez sagte und schrieb, die Liebe Christi ertrage nicht, dass irgendein Mensch ver-lorengehe, und deshalb folge sie, in ihrem Bestreben, alle Menschen zu retten, dem Weg der
Selbstaufopferung.

"Der Herr schenkt dem Mönch die Liebe des Heiligen Geistes. Diese Liebe erfüllt das Herz des Mönchs mit Schmerz für die Menschen, weil sie nicht alle auf dem Weg der Rettung sind. Der Herr Selbst war in solchem Maß erfüllt von Schmerz für Sein Volk, dass Er Sich dem Tod am Kreuz preisgab. Auch die Gottesmutter trug in ihrem Herzen dieses Mitgefühl für die Menschen, und wie ihr geliebter Sohn erstrebte sie mit ihrem ganzen Wesen die Rettung aller. Denselben Heiligen Geist hat der Herr den Aposteln, unseren heiligen Vätern und den Hirten der Kirche geschenkt."

Man kann die anderen auf echte christliche Weise nur durch die Liebe retten, das heißt, indem man sie anzieht. Hier ist kein Raum für Zwang. Im Streben nach der Rettung aller Menschen will die Liebe bis ans Ende gehen, und deshalb umfaßt sie nicht nur die Welt der jetzt auf Erden Lebenden, sondern auch jene, die bereits gestorben sind, den Hades selbst, sowie jene, die noch nicht geboren sind, anders gesagt, den ganzen Adam.  Die Liebe frohlockt und freut sich, wenn sie die Rettung der Brüder sieht, und sie weint und betet, wenn sie ihr Verderben sieht.

Wir fragten den Starez: "Wie kann man alle Menschen lieben? Und wo findet man eine solche Liebe, die bewirkt, dass wir eins sind mit allen?"

Der Starez antwortete: "Um eins zu werden mit allen Menschen, gemäß dem Wort des Herrn: "Damit alle eins seien" (Joh 17,21), brauchen wir nichts zu erfinden - wir haben alle dieselbe Natur, deshalb wäre es natürlich, dass wir uns alle lieben. Der Heilige Geist ist es, der die Kraft gibt, zu lieben."

Die Kraft der Liebe ist groß und siegreich, doch sie ist nicht unbegrenzt. Es gibt im Menschen einen Bereich, wo selbst die Liebe sich nicht durchzusetzen vermag, etwas, das ihrer Macht eine Grenze setzt. Was ist das?

Es ist die Freiheit.

Die Freiheit des Menschen ist in der Tat so real und so groß, dass nicht einmal das Opfer Christi und das Opfer all jener, die Christus gefolgt sind, zwangsläufig zum Sieg führt.

Der Herr hat gesagt: "Und Ich, wenn Ich erhöht sein werde von der Erde (das heißt: gekreuzigt), werde alle Menschen an Mich ziehen" (Joh 12, 32-33). So hofft die Liebe Christi alle Menschen an sich zu ziehen, und deswegen steigt sie hinab bis in den Abgrund des Hades. Doch selbst auf diese vollkommene Liebe und auf dieses vollkommene Opfer kann jemand – wer? unbekannt; wieviele? ebenfalls unbekannt – antworten mit Ablehnung, selbst auf der Ebene der Ewigkeit,  und sagen: "Ich aber, ich will nicht."

Die geistige Erfahrung der Heiligen
und die eschatologische Irrlehre des Origenismus

Diese schreckliche Möglichkeit der Freiheit, die die Kirche auf Grund ihrer geistigen Erfahrung sehr wohl kennt, ist es, die sie dazu geführt hat, die Doktrin der Origenisten zu verwerfen.  

Es steht außer Zweifel, dass ein Gebet für die Rettung aller, so wie wir es im Leben des Starez sehen, in einem origenistischen Bewußtsein gar nicht aufkommen könnte.

Was der Starez zur Stunde des Erscheinens Christi erfuhr, war für ihn eine unerschütterliche Gewißheit. Er WUSSTE, dass Jener, Der ihm erschien, der Allmächtige Herr war. Er wußte, dass er die Demut Christi durch die Wirkung des Heiligen Geistes erfahren hatte und dass er von einer Liebe erfüllt worden war, die das Maß des für ihn Erträglichen überschritt. Durch den Heiligen Geist erkannte er, dass Gott grenzenlose Liebe und unendliches Erbarmen ist. Und dennoch brachte ihn diese Wahrheit nicht auf den Gedanken, dass "sowieso alle gerettet werden". Sein Geist blieb sich stets der Möglichkeit der ewigen Verderbnis bewußt, denn der Seele, die im Zustand der Gnade ist, enthüllt sich die ganze Dimension der menschlichen Freiheit.

Die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen

Die absolute Freiheit besteht in der Fähigkeit, seine Existenz auf allen Ebenen selbst zu bestimmen, ohne irgendeine von außen auferlegte Abhängigkeit, Notwendigkeit oder Grenze. Dies ist die Freiheit Gottes. Der Mensch hat keine solche Freiheit.

Die Versuchung für den Menschen, erschaffen als freies Wesen nach dem Bilde Gottes, besteht darin, sich seine eigene Existenz erschaffen, auf allen Ebenen sich selbst definieren und aus eigener Kraft Gott gleich werden zu wollen. Denn nur zu empfangen, was gegeben wird, beinhaltet ein Gefühl von Abhängigkeit.

Der selige Starez sagte oftmals, dass diese Versuchung wie alle anderen überwunden werden kann durch den Glauben an Gott. Der Glaube an die Güte und das grenzenlose Erbarmen Gottes bringt die Gnade herab in die Seele, und dann  verschwindet jenes schmerzliche Gefühl von Abhängigkeit: Die Seele liebt Gott wie ihren eigenen Vater und lebt durch Ihn.
     

Erkenntnis der höchsten geistigen Wahrheiten
nicht durch Gelehrtheit, sondern durch das Halten der Gebote

Der Starez war ein Mann von geringer weltlicher Bildung. Sein Verlangen nach Erkenntnis der Wahrheit war indessen nicht weniger groß als bei irgendeinem anderen Menschen. Doch um diese Wahrheit zu erreichen, folgte er einem ganz anderen Weg als dem der spekulativen Philosophie. In diesem Wissen beobachteten wir mit größtem Interesse, wie sein Geist die unterschiedlichsten theologischen Probleme wahrnahm, in einer ganz besonderen Atmosphäre und in eigenständiger Form, und wie ihre Lösung Gestalt annahm in seinem Bewußtsein. Er konnte zwar ein Thema nicht nach den Regeln der Dialektik darlegen oder es in einer Sprache rationaler Begriffe ausdrücken, denn er fürchtete, "sich zu täuschen in seiner Überlegung". Doch die Thesen, die er äußerte, waren geprägt von einer außergewöhnlichen Tiefe, sodass man sich unwillkürlich fragte: Woher hat er diese Weisheit?

Der Starez war ein lebendiges Zeugnis dafür, dass die Erkenntnis der höchsten geistigen Wahrheiten erlangt wird durch das Halten der Gebote des Evangeliums und nicht durch eine außerhalb desselben geschöpfte Gelehrtheit. Er lebte in Gott und empfing von Gott seine Erleuchtungen, und seine Erkenntnis war nicht ein abstraktes Wissen, sondern das Leben selbst.

Das Christentum ist nicht eine Philosophie, es ist nicht eine "Lehre" (Doktrin), sondern das Leben, und alle Gespräche des Starez sowie alle seine Schriften sind ein Zeugnis dieses Lebens.


Orthodoxe asketische Kultur:
Der heilige Gehorsam Voraussetzung für die Entwicklung der Person

Die orthodoxe asketische Kultur hat mancherlei Aspekte. Einer davon ist der monastische oder genauer gesagt christliche Gehorsam. Wie jede große Tugend kennt auch der Gehorsam zahlreiche Stufen, entsprechend dem geistigen Alter dessen, der ihn übt. Am Anfang kann er den Charakter einer quasi passiven Niederlegung des Eigenwillens vor dem geistigen Vater annehmen, kraft des Vertrauens zu ihm und im Hinblick auf eine genauere Erkenntnis des göttlichen Willens. In einer vollkommeneren Form ist der Gehorsam eine positive Tätigkeit unseres Geistes in seinem Bemühen um die Erfüllung der Gebote Christi, Der die Welt unendlich geliebt hat. Die innere Verfassung des fortgeschrittenen Jüngers läßt sich dahingehend charakterisieren, dass er seine Aufmerksamkeit und seinen Willen anspannt, um so tief wie möglich den Gedanken oder den Willen einer anderen Person, des Bruders,  zu erfassen und sie sodann in einem Akt geistiger Liebe zu erfüllen. Durch einen solchen Akt des Gehorsams öffnet sich das Herz des Gehorchenden, sein Geist bereichert sich, ein neues Leben strömt ein in seine Seele.

In einem noch weiter fortgeschrittenen Stadium führt der Gehorsam dazu, jeden Menschen mit größerer Feinheit zu verstehen, in ihm das Bild Gottes wahrzunehmen, was beim Jünger selbst die Reifung seines "Menschseins" anzeigt. Der hl. Johannes der Evangelist schreibt: "Wenn einer sagt: 'Ich liebe Gott' und seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner, denn wie könnte jener, der den Bruder nicht liebt, den er sieht, Gott lieben, Den er nicht sieht? Und dies ist das Gebot, das wir von Ihm haben - dass jener, der Gott liebt, auch seinen Bruder liebe" (1 Joh 4,20-21).  

Ohne Entwicklung des hypostatischen Prinzips
bleibt der Mensch geistig taub und blind

Der psychisch kranke Mensch ist nicht fähig, den Gedanken oder den Willen einer anderen Person zu erfassen. Deshalb ist mangelnde Bereitschaft zum Gehorsam das sicherste Indiz seiner psychischen Krankheit. Ohne Gehorsam bleibt der Mensch immerdar im engen Käfig seiner egoistischen Individualität eingeschlossen, die dem Prinzip der Person entgegengesetzt ist.

Außerhalb der christlichen Kultur des Gehorsams kann sich das hypostatische Prinzip nicht entwickeln in den Menschen, und sie bleiben taub und blind für die göttliche Offenbarung, die uns geschenkt worden ist durch die Inkarnation des Logos, die Manifestation unseres Archetyps, Der ist vor aller Zeit, auf der Ebene der Geschichte. Deshalb kann man sagen, dass außerhalb der orthodoxen Kultur des Gehorsams die wahre Theologie in ihren letzten Tiefen unzugänglich bleibt. Wie schon gesagt, ist Theologie zu verstehen als ein Zustand der Kommunion mit Gott und nicht als  Gelehrtheit, die äußerst weit entfernt sein kann vom wahren Leben.

Groß ist die Wissenschaft des heiligen Gehorsams! Es ist unerläßlich, viel zu beten, damit unsere geistigen Augen sich öffnen und seine Größe und Heiligkeit wahrnehmen möchten.


Heiliger Gehorsam grundverschieden von "Disziplin"

Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass ein Leben der Askese und des Gebets auf engste Weise verbunden ist mit unserem dogmatischen Bewußtsein, das heißt mit dem korrekten Verständnis der Offenbarung, die uns zuteil geworden ist vom Einen Gott in Drei Hypostasen.

Wir sind geschaffen nach dem Bilde des Dreieinigen Gottes und sind gerufen zu einer freien Selbstbestimmung. Gott offenbart Sich dem Menschen und "erwartet" von ihm eine Antwort auf Seine Liebe. Er wartet darauf, dass wir selbst Ihm ähnlich sein wollen, Von der Art unserer Antwort hängt unser ganzes ewiges Sein ab.

Wir halten es für nötig, zu unterstreichen, dass der Verlust der orthodoxen Theologie in bezug auf das Prinzip der Person unweigerlich dazu führt, dem "Gemeinschaftlichen" den Vorrang einzuräumen gegenüber dem "Besonderen" und nach irgendeinem "transpersonalen Prinzip" zu suchen. In diesem Fall wird man nicht Gehorsam gegenüber einem Menschen, d.h. einer Person verlangen, sondern Unterordnung unter das "Gesetz", die "Regel", das "Amt", die "Institution" usw. Denkt nach über das, was gesagt wurde, und ihr werdet sehen, dass mit einer solchen unper-sönlichen Art, die Struktur der menschlichen Gesellschaft anzugehen, der authentische Sinn des christlichen Gehorsams, wie er in den Geboten Christi enthalten ist, verlorengeht und an seiner Stelle die "Disziplin" eingeführt wird. Diese letztere ist zwar unerläßlich und unvermeidlich, wo Menschen zusammenleben, doch nur bis zu einem gewissen Punkt. Der Verlust des auf der Person basierenden christlichen Gehorsams aber wird sich nicht wettmachen lassen durch irgendwelche äußerliche Erfolge der "Institution", noch auch durch die Errungenschaften einer  harmonischen Organisation des Ganzen.

Das dogmatische Bewußtsein - eine Gabe der Gnade Gottes
 
Die historische Erfahrung der Kirche, zu der wir jene der Apostel sowie der alten und der neueren heiligen Väter rechnen, zeigt uns, dass ein Mensch, der großer Gnadengaben und Visionen gewürdigt worden ist, danach noch langer Jahre asketischen Lebens bedarf, um dieselben tiefer zu assimilieren. Hier nimmt die göttliche Gnade die Form einer geistigen Erkenntnis an, die wir vorzugsweise als "dogmatisches Bewußtsein" bezeichnen, wobei jedoch "dogmatisch"  nicht in akademischem Sinn zu verstehen ist.

So wurde der erste Brief des heiligen Paulus, jener an die Thessaloniker, ungefähr 15 Jahre nach der Erscheinung des Herrn auf dem Weg nach Damaskus geschrieben. Für einige dauert diese Periode der Assimilierung zwanzig, fünfundzwanzig oder dreißig Jahre oder sogar noch länger. Die Evangelisten und die anderen Apostel schrieben ihre Zeugnisse und ihre Briefe viele Jahre nach der Auffahrt des Herrn. Und die heiligen Väter in ihrer Mehrheit legten Zeugnis ab über ihre Erfahrung und ihre Visionen erst am Ende ihres asketischen Wegs. Im Leben von Starez Siluan sehen wir, dass über dreißig Jahre verflossen, bis er seine Erfahrung mit reifem und vollendetem dogmatischem Bewußtsein schriftlich vorlegte. So lange also dauert der Vorgang der Assimilierung der Gnade.

Dieses dogmatische Bewußtsein, von dem wir hier reden, stammt aus der geistigen Erfahrung und nicht aus der mentalen Tätigkeit unseres Intellekts. Wenn die heiligen Väter ihre Erfahrung in Worte übersetzen, so nimmt das nicht den Charakter scholastischer Konstruktionen an, sondern es ist eine Seele, die sich offenbart. Um von Gott und vom Leben in Ihm zu reden, sind keinerlei komplizierte Reflexionen nötig. Von selbst wird das Wort in der Seele geboren.

Die heiligen Asketen halten sich fern von
der diskursiven Spekulation und logischen Interpretationen

Das dogmatische Bewußtsein eines Asketen ist nicht die Frucht intellektueller Reflexionen über seine innere Erfahrung, was vom psychologischen Standpunkt völlig natürlich wäre. Die Asketen halten sich fern von den Pfaden der diskursiven Spekulation, denn diese bewirkt nicht nur ein Nachlassen der Intensität des Schauens des göttlichen Lichts, sondern führt letztlich zum gänzlichen Aufhören der wahren Gottesschau. Dann versinkt die Seele in der Finsternis und bewahrt nur noch ein abstraktes rationales Wissen, entblößt von Lebenskraft.

Wozu vernünfteln über die Natur der Gnade, wenn man ihre Wirkung nicht in sich verspürt? Wozu dozieren über das Thabor-Licht, wenn man nicht existentiell in ihm west? Welchen Sinn hat es, subtile Triadologie zu betreiben, wenn man nicht die Heilige Kraft des Vaters, die süße Liebe des Sohnes, das Ungeschaffene Licht des Heiligen Geistes in sich hat?

Das dogmatische Bewußtsein, verstanden als geistige Erkenntnis, ist eine Gabe Gottes. Desgleichen ist alles wahre Leben in Gott nur möglich durch das Kommen Gottes. Bei weitem nicht immer ist es an andere weitergegeben worden durch das gesprochene oder geschriebene Wort. Wenn das göttliche Wohlwollen auf einem Menschen ruht, ist seine Seele ohne jeden Wunsch, die gelebte Erfahrung mit Hilfe rationaler Begriffe oder logischer Interpretationen zu erklären. Die Seele empfindet keinerlei Bedürfnis nach solchem, denn sie weiß mit Sicherheit – ohne ihr Wissen beweisen zu können, das ist wahr, doch dieses Wissen bedarf keines Beweises – , dass sie wahrhaftig in Gott lebt. Wenn ihr Kräfte verbleiben, strebt sie nach einer noch größeren Fülle, doch wenn die Wirkung Gottes ihre Kräfte übersteigt, verharrt sie im Schweigen einer glückseligen Erschöpfung.

Das Leben des Geistes läßt sich nicht
in menschliche Worte fassen

Es ist nicht möglich, die geistige Erfahrung in vollkommen adäquate Begriffe zu über-setzen. Die menschlichen Worte sind ungeeignet, das Leben des Geistes auszudrücken. Was unausdrückbar, ja sogar unvorstellbar ist in der Ordnung des logischen Denkens, wird auf existentielle Weise erlangt. Durch den Glauben und lebendige Kommunion wird Gott erkannt. Doch wenn sich das menschliche Wort einmischt, mit seinem ganzen konventionellen Charakter und seinen Fluktuationen, verstrickt man sich in endlose Unschlüssigkeiten und Widersprüche.

Man kann mit Sicherheit sagen, dass kein einziger Heiliger versucht hätte, seine geistige Erfahrung in Worten auszudrücken, sondern auf immer in Schweigen verharrt wäre, jenem "Mysterium des künftigen Äons", wäre er  nicht vor die Aufgabe gestellt gewesen, seine Brüder zu lehren, hätte nicht die Liebe die Hoffnung erweckt, dass jemand, "und wäre es auch nur eine einzige Seele", wie der Starez schreibt, das Wort vernehmen und, den Weg der Metanie unter die Füße nehmend, die Erlösung finden würde.

Die Grundlagen des dogmatischen Bewußtseins sind schon von der ersten Erfahrung der Gnade an vollumfänglich gegeben, und wenn sich dieser Aspekt des einen und unteilbaren geistigen Lebens nicht sogleich deutlich manifestiert, so rührt das nicht daher, dass etwas fehlen würde in der göttlichen Gabe, sondern daher, dass die Assimilierung dieser Gabe durch den Menschen verbunden ist mit einem langen inneren Prozeß.

Der Mensch, der zum ersten Mal das ungeschaffene göttliche Licht schaut, der zum ersten Mal eingeführt wird in die Welt des ewigen Lebens, ist völlig überwältigt von der Neuheit dieser Vision, und weil die Welt, die ihm erscheint, inkommensurabel und ohne Beziehung ist mit der materiellen Welt, die uns umgibt, verharrt er in einer seligen Verwunderung, die er keineswegs in Worten auszudrücken vermag. Deshalb bewahrt er Schweigen. Sagt er aber einige wenige Worte, scheinen sie fast absurd. Wenn er nicht berufen ist, die frohe Botschaft zu verbreiten, wird er die Worte, die er vernommen hat und die keine menschliche Sprache wiederzugeben vermag, in seinem Herzen verborgen bewahren.

Doch wie groß die erste Gnadengabe auch sein mag, solange er sie nicht assimiliert hat, bleibt der Mensch Schwankungen und sogar Stürzen unterworfen. Der Apostel Petrus gibt uns hiefür ein vorzügliches Beispiel. Auf dem Berg Thabor ist er in seliger Verwunderung, doch später, zur Stunde der Leiden Christi, verleugnet er Ihn. Und viele Jahre danach zitiert er in seinem Brief seine Vision auf dem Thabor als mächtiges Zeugnis für die Wahrheit.


Vollkommene Gotteserkenntnis ohne Christus unmöglich

Gott ist nicht mißgünstig. Er kennt keine Eigensucht und Ruhmsucht. Demütig, geduldig sucht Er jeden Menschen auf allen Pfaden seines Lebens. Deshalb kann jeder in mehr oder weniger großem Maß zur Erkenntnis Gottes gelangen, nicht nur innerhalb der Kirche, sondern auch außerhalb von ihr. Doch die vollkommene Erkenntnis Gottes ist nicht möglich ohne Christus oder außerhalb von Ihm (s. Mt 11,27, Joh 14,6).

Keine geistige mystische Erfahrung außerhalb von Christus erlaubt dem Menschen, die Gottheit zu erkennen als Eine und Einzige absolute und unvorstellbare Wesenheit in Drei absoluten und unvorstellbaren Hypostasen, anders gesagt als wesenseine und unteilbare Dreiheit. In Christus jedoch wird diese Erkenntnis zum Licht des ewigen Lebens, das alle Äußerungen des menschli-chen Lebens erleuchtet.

In den Schriften von Starez Siluan ist klar zu sehen, wie er ohne irgendeinen Widerspruch Einen Einzigen Gott in Drei Personen lebte. In seinen Gebeten wendet er dieselben Namen: Vater, Herr, Gebieter, König, Schöpfer, Erlöser und andere mehr, einmal gesondert auf eine der Personen der Heiligen Dreiheit an, dann wieder auf die Einheit der Drei Hypostasen.

Nach dem kategorischen Zeugnis des Starez wird die Göttlichkeit Jesu Christi kraft des Heiligen Geistes erkannt. Derjenige, der die Göttlichkeit Christi auf diese Weise erkannt hat, wird kraft seiner geistigen Erfahrung auch das Mysterium der Vereinigung ohne Vermischung der beiden Naturen und der beiden Willen begreifen. Ebenfalls dank dem Heiligen Geist wird ihn die geistige Erfahrung die ungeschaffene Natur des göttlichen Lichts sowie die anderen Dogmen unseres Glaubens begreifen lassen. Doch es ist sorgfältig zu beachten, dass dieses dogmatische Bewußtsein, das von der Erfahrung der Gnade kommt, qualitativ verschieden ist von dem zwar äußerlich ganz ähnlichen dogmatischen Bewußtsein, das entweder aus dem "Glauben vom Hörensagen" stammt oder aus wissenschaftlicher Gelehrtheit oder auch aus philosophischen Überzeugungen.

"An die Existenz Gott zu glauben ist eine Sache, eine andere aber, Gott zu kennen", pflegte der Starez zu sagen.

Abstrakte intellektuelle Vorstellungen können der Wirklichkeit entsprechen, doch selbst dann sind sie, getrennt von der positiven Erfahrung der Gnade, nicht jenes Kennen Gottes, das in seinem Wesen das ewige Leben ist (s. Joh 17,3). Doch auch sie sind kostbar, denn sie können dem Menschen jederzeit nützlich sein, selbst auf der Ebene des wahren geistigen Lebens.

Ein intellektueller Theologe könnte beim Lesen der Schriften des Starez versucht sein, zu sagen: "Ich vermisse darin den Reichtum des theologischen Denkens. Ich sehe darin kein dogmatisches Bewußtsein." Dies würde er sagen, weil sich seine Spiritualität auf einer anderen Ebene befindet.

Ein rationalistischer Theologe ist beschäftigt mit einer Vielzahl von Problemen, die er auf dem Weg der rationalen Spekulation zu lösen sucht. Seine wirkliche religiöse Erfahrung ist oftmals nicht sehr groß, sie stammt vor allem aus der rationalen Sphäre seines Wesens und nicht aus einer lebendigen Kommunion mit Gott. Er hält seine wissenschaftliche Gelehrtheit und seine rationale Erfahrung für geistigen Reichtum und mißt ihnen solchen Wert  bei, dass jede andere Erfahrung in seinen Augen auf einer niedrigeren Ebene steht.

Für einen wirklich geistigen Menschen aber, der die lebendige Kommunion mit Gott sucht, sind die Schwärmereien des Rationalisten von einer Naivität, die ins Auge springt. Er kann nicht verstehen, wie ein intelligenter Mensch sich mit den Mutmaßungen und Konstruktionen seines eigenen Denkens zufriedengeben kann. Er selbst zieht den Weg der existentiellen Erkenntnis vor. Dies war der Weg von Starez Siluan. Dies ist  auch der Weg der Kirche. Die Kirche ist stark nicht auf Grund von wissenschaftlicher Gelehrtheit, sondern in erster Linie kraft des realen Besitzes der Gaben der Gnade. Die Kirche lebt durch den Heiligen Geist, in Ihm atmet sie. Durch ihre Teilhabe an Ihm weiß sie, wie Er wirkt.

Die menschliche Sprache ist unfähig, jenes Leben auszudrücken, zu dem wir gerufen sind und das Gott uns schenkt. Der Herr Selbst hat es vermieden, dieses Leben in Worten zu beschreiben, sondern Er hat gesagt: "Wenn der Geist der Wahrheit kommt, wird Er euch hinführen zur ganzen Wahrheit... und an jenem Tag werdet ihr Mich über nichts mehr befragen" (Joh 16,13 und 23).


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