Hl. Nikolaj Velimirović

Über die Ethik in der Politik [1]

Aus Eurem Schreiben schließe ich, dass Ihr geneigt seid zur Anerkennung einer besonderen Ethik in der Politik,  die sich unterscheide von der Ethik in den anderen Tätigkeiten und menschlichen Beziehungen. So vorsichtig und subtil Ihr Euch auch ausdrücken mögt, kann das doch nichts anderes bedeuten als dass das, was in den alltäglichen menschlichen Beschäftigungen als unehrenhaft gilt, in der Politik als ehrenhaft zu anerkennen sei, und dass das, was in den übrigen menschlichen Beziehungen als unanständig gilt, in der Politik als anständig zu anerkennen sei. Diese gefährliche Neigung ist nichts Neues. Leider hat man auch hierzulande angefangen, die Politik in der Tat als eine besondere Art von Ethik zu betrachten, genauer gesagt - als Dispens von der Ethik.

Doch wie ich persönlich habt gewiß auch Ihr selbst schon oft folgendes Urteil des Volksmundes vernommen: "Glaubst du wirklich, dass dieser die Wahrheit sagt? Keineswegs, das sind Sprüche von Politikern."

Seht ihr, wie groß der Abgrund ist zwischen Eurer eigenen Neigung und dem Urteil des Volkes? Eure besondere politische Ethik nennt das Volk ganz einfach: Betrug. Diesem Urteil des Volkes müßt Ihr als Politiker Rechnung tragen, ist doch Politik im eigentlichsten Sinn Angelegenheit des Volkes und zwar eine der wichtigsten Angelegenheiten des Volkes.

Ihr möchtet eine besondere Technik finden, dank welcher das Volk fortschreitet und der Staat seine Macht bewahrt. Und diese besondere Technik, die in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Technik des Würfelspielers, möchtet ihr als politische Ethik bezeichnen. Ich will nicht in Abrede stellen, dass Eure Motive edel sind, doch alles andere, was Ihr sagt, ist der Ethik, dem Christentum und der Zivilisiertheit fremd. Es ist ein Spiel aus prähistorischen Zeiten, nämlich der Widerstreit zwischen dem Stärkeren und dem Schwächeren, bei welchem, wenn das heuchlerische Lächeln nicht hilft, die Zähne und die Klauen helfen.

Auf all das antwortet das Volk: "Das Recht bewahrt das Land und die Städte." Wollt Ihr diesen ehernen Grundsatz unseres Volkes nicht achten, dann hört wenigstens, was die zivilisierten Engländer sagen: "Ehrlichkeit ist die beste Politik." Gewiß, es gab eine Epoche in der langen politischen Lehrzeit der Engländer, wo jene anders dachten. Doch die Erfahrung lehrte sie, dass in der Tat die Ehrlichkeit die beste Politik ist. Ein berühmter Amerikaner sagte: "Wenn die Amerikaner anfangen, ins Parlament zu gehen mit denselben Gedanken und Gefühlen, mit denen sie in die Kirche gehen, dann wird unser Staat stabil und unser Volk zufrieden sein."

In unserem geliebten Balkan gelangten in der Antike jene Politiker zum größten Ruhm, die in ihren öffentlichen Geschäften dieselben ethischen Regeln befolgten wie in ihren privaten Angelegenheiten. Erinnert euch an Aristides den Gerechten, wie er sich verhielt, als man ihn durch das Scherbengericht verbannte: Während der Abstimmung trat ein ihm unbekannter Mann, der nicht schreiben konnte, zu ihm und bat ihn, für ihn auf die Tonscherbe zu schreiben: "Verbannt Aristides". Und ohne zu zögern kam Aristides seiner Bitte nach, obwohl dies zu seinem eigenen Schaden war.[2] 

Durch den christlichen Glauben ist die Unzertrennbarkeit der Ethik mit größerem Nachdruck verkündet worden als je zuvor. Eine der Hauptursachen des Durcheinanders und des Jammers, die heute vorherrschen auf diesem kleinen europäischen Kontinent, ist die Doppelgesichtigkeit der Ethik. Eine Art von Ethik wird gefordert im Privatleben, eine andere im öffentlichen Leben.

Dass solche Doppelgesichtigkeit die Völker nicht zum Guten führt, davon zeugt das Verhalten der Führer von Jerusalem gegenüber Christus und das nachfolgende Schicksal des Volkes Israel. Hatten diese Führer über das Volk zu richten, verurteilten sie die falschen Zeugen, doch im Prozeß gegen Christus schafften sie selbst falsche Zeugen herbei. Und während sie untereinander sagten, Jesus arbeite den Römern in die Hände (s. Joh 11,48), erklärten sie vor dem römischen Statthalter Pilatus, Jesus sei ein Gegner der Römer und des Kaisers, denn "wer sich selbst zum König macht, widersetzt sich dem Kaiser" (Joh 19,12.), worauf sie heuchlerisch noch hinzufügten: "Wir haben keinen König außer dem Kaiser" (Joh 19,15).

Solcherart ist die Doppelgesichtigkeit der Ethik. Mit eben jener "politischen Ethik", mit welcher die jüdischen Politiker ihr Volk retten wollten, zerstörten sie es. Als der Herr diese ganze Intrige sah, diese ganze unethische pharisäische Verschwörung gegen Ihn, prophezeite Er, dass deren Haus veröden werde. Dies mithin ist die Frucht der politischen Ethik. Dies ist die schreckliche Lehre für alle jene Volksführer, die die Ethik zerreißen und sie abwenden von jenem ehernen Grundsatz des Volkes: "Das Recht bewahrt das Land und die Städte."

Frieden Euch und Gesundheit vom Herrn

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[1] Dies ist Brief 74 der Sammlung der 300 Hierapostolischen Briefe des Hl. Nikolaj, Bischof von Ochrid und Zica (1880-1956), mit welchem der heilige Hierarch eine Zuschrift des Politikers N.N. beantwortete. Dt. Übersetzung  vom Kloster des Hl. Johannes des Vorläufers, Chania 2011.

[2] Aristides war ein Athener Staatsmann  (530-468 v. Chr.), der wegen seiner Opposition gegen Themistokle' Flotten-politik um 482 durch jene Abstimmung der Athener Volksversammlung zeitweilig aus seiner Heimat verbannt wurde.


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